"Mach mal lauter!"

13.01.2024 23:58 (zuletzt bearbeitet: 14.01.2024 00:09)
#1
avatar

Maria ist 20 Jahre alt und stammt aus Brandenburg an der Havel.

Mittlerweile lebt sie jedoch in Potsdam in einer von ihrem Arbeitgeber gestellten Wohnung.

Sie arbeitet in einer kirchlichen Einrichtung im Rahmen eines Bundesfreiwiligendienstes. Sie ist für die Betreuung von Jugendlichen zuständig und hat sich nach dem Abitur, was sie mit Müh und Not geschafft hat, dafür entschieden, da sie sich noch nicht richtig darüber im Klaren ist was sie danach tun möchte.

In ihrer Heimat besucht sie seit ihrer Konfirmation die Junge Gemeinde, in welcher sie auch öfters leitende Aufgaben übernommen hat. Da schien es ihr nur allzu schlüssig, die Stelle in Potsdam anzunehmen, die im Internet ausgeschrieben war.

Doch bereits am ersten Tag in der brandenburgischen Landeshauptstadt erlitt sie einen Kulturschock.

Hier stammen die Jugendlichen nicht etwa wie sie aus wohlsituierten christlichen Familien, sondern aus zerrütteten Verhältnissen. Die kirchliche Einrichtung dient diesen eher als eine Art Auffanglager, um sie von der Straße fernzuhalten.

Maria kommt nur sehr schwer mit den Jugendlichen zurecht. Sie tanzen ihr regelrecht auf der Nase herum.

Da ist zum Beispiel der 15jährige Tom, der mit einem Kugelschreiber Hakenkreuze auf das Ledersofa kraxelt.

Oder der gleichaltrige Steven, der mit einem Edding die Ettiketten der leeren Pfandflaschen übermalt, sodass diese für eine Rückgabe unbrauchbar werden.

Als ob das nicht schon alles schlimm genug wäre, hagelt es auch noch Kritik von den Menschen, die Maria vorstehen, wie zum Beispiel dem Betreuer des Bundesfreiwilligendienstes Werner.

Sie solle sich mehr um ein Miteinander mit den Jugendlichen bemühen. Bei ihrer Vorgängerin Larissa habe dies ja auch geklappt. Gefühlt geht jeder zweite Satz nur mit "Larissa" los.

Maria ist frustriert. Sie bereut, diesen Job angenommen zu haben.

Am liebsten würde sie sich mit irgendwas vollstopfen. Mit Essen. Mit Alkohol. Oder Zigaretten.

Alles Sachen, mit denen sie sonst nie großartig zu tun hatte. Lediglich auf den Klassenfahrten nach London und zuvor in Paris hatte sie mal eine geraucht.

Sie fand Gefallen daran, doch wollte dem nicht ernsthaft nachgehen, da sie es nicht wirklich mit ihrem Glauben vereinbaren konnte.

Doch jetzt auf einmal verspürt sie eine unbändige Lust danach, eine Zigarette zu rauchen. Die Gedanken an Alkohol und Süßigkeiten dagegen sind vollkommen verblasst. "In Rauch aufgelöst", denkt sie sich und schmunzelt kurz über ihren eigenen Gedanken, ehe sie wieder von der Realität eingeholt wird.

Das Problem ist nur dass sie nicht genügend Geld für Zigaretten hat. Und sie kennt auch niemanden weiter, der raucht, seitdem sie nicht mehr die Schule besucht.

Die einzigen, die rauchen, das sind Tom und Steven. Steven fragte Maria einst, ob sie für ihn Zigaretten kaufen könnte, da er ja noch nicht alt genug ist, Maria aber schon.

Das kam für Maria jedoch in keinster Weise in Frage. Weder konnte sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren noch wollte sie dass jemand davon Wind bekommt.

Wie also um alles in der Welt sollte sie jetzt an Zigaretten kommen?

Sie checkt, was sie noch an Geld im Portmonee hat. "Das brauche ich aber fürs Essen", resigniert sie.

"Am besten ich verwerfe den Gedanken einfach wieder".

Einmal in der Woche besucht Maria ihre Eltern in Brandenburg an der Havel. Sie nimmt den Bus, um dorthin und wieder zurück nach Potsdam zu kommen.

Ihre Mutter überweist Maria jeden Monat 50 Euro auf ihr Bankkonto, das Maria für das auf ihren Namen laufende Deutschlandticket nehmen soll. Damit möchte Marias Mutter Klara sicherstellen, dass Maria auch regelmäßig zu ihr kommt, denn sie vermisst ihre Tochter sehr, seitdem sie nicht mehr zu Hause wohnt.

Eines Tages ist es wieder soweit: Maria steht an ihrer Stamm-Bushaltestelle, um den Bus zu ihrer Mutter zu nehmen. Dabei fällt ihr ein jüngeres Mädchen auf, das eine Zigarette raucht.

"Wie lecker das riecht", denkt sie sich.

Endlich kommt der Busfahrer und das Mädchen wirft die Zigarette auf den Boden und sagt dabei "Mist", womit sie ausdrückt, dass es sie ärgert sich gerade erst eine angesteckt zu haben und nach den paar wenigen Zügen die noch mehr als halbe Zigarette wegzuschmeißen.

Da lag es also da, das Objekt der Begierde. Da das Mädchen sie nicht ausgetreten hatte, qualmt sie also noch vor sich hin.

"Ob ich die jetzt einfach aufhebe und weiterrauche?", fragt Maria sich.

"Aber dann müsste ich ja Mutti anrufen, dass ich heute nicht komme", denn es ist der letzte Bus, der zeitlich für sie in Frage käme.

"Na gut, dann halt wieder nicht", ärgert sie sich und ist im Begriff ihr Deutschlandticket in Kartenform auf das vorgesehene Scan-Feld zu halten, damit die Fahrt registriert werden kann und es sichergestellt wird, dass sie auch dafür bezahlt hat.

"Lass gut sein, mach hinter!", meint der Busfahrer, woraufhin Maria die Karte wieder in ihrem Portmonee verstaut und Platz nimmt.

"Das ist doch der Fahrer, der es immer so eilig hat!", schießt es Maria in den Sinn.

Sie erinnert sich an ihn. Einst war sie im Kaufland einkaufen und wartete nach getanem Einkauf an der direkt am Kaufland gelegenen Haltestelle. Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit, ehe der nächste Bus kam. Das war mitten im Winter, zwischen Weihnachten und Silvester, wo sie das Geld, das sie zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, etwas auf den Kopf schlug. Entsprechend kalt war es Ende Dezember und sie beschloss, statt an der kalten Bushaltestelle im warmen Eingangsbereich des Marktes zu warten, wo sie ja noch einige der Verkaufsangebote und Gesuche an der Wand durchlesen konnte. Dieser Plan jedoch wurde vereitelt, als sie Werner dort gesehen hatte, den Betreuer ihres Bundesfreiwilligendienstes.

Mit dem wollte sie auf keinen Fall ins Gespräch kommen. Aber an der kalten Bushaltestelle wollte sie auch nicht warten. Also beschloss sie einfach zur nächsten Bushaltestelle zu laufen, die gut 2 Kilometer entfernt liegt und vom Fahrplan her die Haltestelle vor der am Kaufland ist.

Sie rannte um rechtzeitig dort hinzugelangen und schaffte es gerade so, nach Luft ringend, in den Bus zu steigen.

Dann traute Maria ihren Augen und Ohren kaum: Der Busfahrer fährt einfach an der Haltestelle "Kaufland" vorbei, obwohl diese Haltestelle unüberhörbar im Bus als nächster Halt angekündigt worden ist und zudem eingeblendet wird.

"Was wäre nur gewesen, wenn ich hier geblieben wäre?", dachte sie sich. "Was für ein Arsch dieser Busfahrer doch ist... Der kann doch nicht einfach diese Haltestelle weglassen!".

"So ein Rindvieh! Absoluter Vollidiot!", gingen ihre Gedanken weiter.

"Eigentlich müsste man es mal drauf ankommen lassen und der lässt einen wirklich mal hier stehen... Dann bezahlt der mir die Taxi-Rechnung!".

Das ist nun schon länger her. Mittlerweile ist es Frühjahr und Maria sitzt also wieder mit demselben Busfahrer im Bus.

"Muss der sein Radio laut laufen lassen?", denkt sie sich.

An jeder Haltestelle, an der er hält, winkt er die Passagiere mit einem Deutschlandticket durch, egal ob es in Kartenform oder auf dem Handy ist. Lediglich die bar zahlenden Fahrgäste kassiert er ab.

"DAS IST ES!!!", schießt es Maria in den Kopf.

"Wenn der gar nicht kontrolliert, ob meine Karte jetzt auch bezahlt ist oder nicht, dann könnte ich doch theoretisch auch einfach schwarz bei dem mitfahren. Ich muss bloß sicherstellen, dass er es ist, der den Bus lenkt. Wenn nicht, rufe ich Mutti an, dass ich nicht kommen kann. Mutti selber überweist mir nach wie vor den Fuffi und ich kann den für schöne Sachen ausgeben - da kann ich endlich ein paar Zigaretten kaufen!".

Noch am selben Abend erkundschaftet Maria die Telefonnnummer der Hamburger Hochbahn, von der sie ihr Deutschlandticket in Kartenform hat, um dort am nächsten Tag anzurufen.

Am Tag darauf wird sie bereits vor dem Weckerklingeln wach. Sie ist zu aufgeregt. Ab 07:00 Uhr sind die Büros besetzt. "Noch eine Stunde", seufzt sie und vertreibt sich die Zeit mit ihrem Frühstück.

Punkt 7 wählt sie die Hotline um das Abonnement aufzulösen.

"Ist gut, behalten Sie die Karte und kehren Sie gerne zu uns zurück, wenn es Ihnen passt. Bitte bedenken Sie, dass die Karte dann nicht mehr gültig ist", meint die Dame am Telefon.

Maria geht zu ihrer Bank. Es ist der 10. April. Sie checkt ob ihre Mutter bereits wieder die üblichen 50 Euro überwiesen hat. "Ja", ruft sie erfreut, womit sie zum einen die Frage beantwortet, zum anderen ihrem Jubel über den bevorstehenden geplanten Kauf Ausdruck verleihen will.

Sie kauft gleich drei Schachteln verschiedener Sorten, die sie zuhause ausprobiert.

Sie beschließt sich bei ihrem Arbeitgeber krank zu melden, um die Woche zuhause nutzen zu können um nach Stellenangeboten zu suchen.

Schon bald hat sie einen neuen Job gefunden. Sie sitzt jetzt bei Aldi an der Kasse. Damit hat sie genügend Einkommen für Zigaretten. Sie hat nun angefangen regelmäßig zu rauchen und ihre Stammmarke sind Chesterfield Blue.

Eines Tages steigt sie wieder in den Bus ein, wo "der Eilige", wie sie ihn nennt, wieder am Steuer sitzt. Der Busfahrer, der ihr das Rauchen ermöglicht hat. Wieder hat er das Radio unüberhörbar laufen. Maria bemerkt beim Betreten des Busses einschließlich eines freundlichen "Hallos", dass sie die einzige ist, die im Bus ist und meint nur: "Mach mal lauter!".


 Antworten

 Beitrag melden
28.01.2024 19:02
avatar  Malcolm
#2
Ma

Warum habe ich das bisher übersehen?

Nach all deinen Beiträgen weiß ich: Wenn einer schreiben kann, dann bist du das. Vom Stil her gefällt es mir, wogegen ich aber nichts machen kann, ist die Tatsache, dass es bei mir nicht den Fetisch triggert. Ich brauche immer den "Twist". Da bin ich ganz das Klischee, das auch bei Wikipedia zum Thema Fetischliteratur beschrieben wird, für mich muss ein angewidertes Mädchen, bzw. eine Frau durch Umstände welcher Art auch immer zum Rauchen kommen - und es dann erst glorifizieren.

Hat denn diese Geschichte hier eine beabsichtigte Fortsetzung oder ist es nur als kurzes Porträt gedacht?


 Antworten

 Beitrag melden
28.01.2024 19:09
#3
avatar

Danke, Malcolm! Das freut mich wirklich sehr!

Die Geschichte und wohl auch meine andere ("Der Zug ist abgefahren") sind wohl etwas beeinflusst von den Filmen von Aki Kaurismäki, der halt gerne Leute porträtiert, die mit Alltagsproblemen zu kämpfen haben und nicht immer auf der Sonnenseite des Lebens stehen, aber (mit Erfolg) darum bemüht sind, sich aus ihren Misslagen zu befreien.

Da ging es mir sicherlich mehr darum als um das bewusste Treffen von Triggerpunkten von Fetischisten, zumal ja jeder andere Vorlieben hat.

Die Story hier plane ich nicht fortzusetzen, eventuell eher die andere.


 Antworten

 Beitrag melden
Bereits Mitglied?
Jetzt anmelden!
Mitglied werden?
Jetzt registrieren!